Martinskirche – Die Geburtsurkunde Völklingens
Zur Frage der Bedeutung der Beigaben liegen folgende Annahmen nahe:
Schwangere Frauen galten im Mittelalter als besonders gefährdet durch Zauberei und diabolische Einflüsse. Um sicherzustellen, dass die Frauen nicht als Untote die Lebenden heimsuchten, gab man ihnen mit, was sie zur Versorgung ihrer ungeborenen Kinder im Jenseits benötigen würden. Diese Beigaben konnten Nadeln, Gefäße, Scheren und Tücher sein. (LXXXIX.)
Die Wöchnerinnenbestattungen im Kirchhof der Völklinger Martinskirche
von Carmen Löw
Im Zuge der archäologischen Ausgrabung der Völklinger Martinskirche wurden im Jahr 2002 vier Bestattungen freigelegt, denen man Gegenstände mit ins Grab gegeben hatte. Allen Bestattungen war eine Schere beigegeben worden, die sich in einem Fall jedoch nur fragmentarisch erhalten hat. Drei der Bestattungen verfügten über ein Gefäß, worunter das schönste sicherlich eine doppelkonische Stülpflasche aus Glas ist, die ganz ohne Schaden geborgen werden konnte. Die Gefäßbeigaben erlauben eine recht genaue zeitliche Einordnung der Bestattungen, die ins 15. bis frühe 16. Jh. zu datieren sind.
Bei zwei Bestattungen fanden sich außerdem Reste von kleinen menschlichen Knochen im Bereich des Beckens. Nach einer ersten Einschätzung der Medizinerin Angelika Kunz handelt es sich bei diesen beiden Bestattungen um Frauen, die in der letzen Phase der Schwangerschaft verstorben waren, eine davon infolge der Querlage des Kindes, dessen vorgefallener linker Arm sich noch zwischen den Oberschenkeln der Mutter erhalten hatte. Da auch die anderen Bestattungen in unmittelbarer Nähe augenscheinlich Frauen waren und über die gleichen Beigaben verfügten, wie die beiden Bestattungen mit Fötus, liegt es nahe, daß auch diese Frauen im Wochenbett verstorben sind. Der stolzen Zahl von vier Wöchnerinnenbestattungen konnte im Jahr 2003 eine weitere hinzugefügt werden, die allerdings im Bereich des Unterkörpers stark gestört war. Das Gefäß – in diesem Fall eine manganviolette Tasse – ist erhalten geblieben, von der Schere fand sich jedoch lediglich ein Bruchstück.
Daß solche Bestattungen so zahlreich wie in Völklingen belegt sind, ist recht selten. Das liegt zum einen daran, daß sich die Kinderknochen in der Regel schlechter erhalten. Unter Umständen erklären sich die fehlenden Kinderknochen jedoch auch durch regionale Bräuche, denn mancherorts hat man die ungeborenen Kinder ihren verstorbenen Müttern vor der Bestattung aus deren Leib geschnitten. Das ungetaufte Kind hatte nämlich keinen Anspruch darauf, in geweihter Erde begraben zu werden. Nach den spätmittelalterlichen / frühneuzeitlichen Jenseitsvorstellungen kam in die Hölle, wer eine Todsünde begangen hatte oder mit der Erbsünde – also ungetauft -verstorben war. Die Furcht um das Seelenheil der Kinder war so groß, daß man zu uns heute recht merkwürdig anmutenden Mitteln griff, um eine Taufe unter allen Umständen zu gewährleisten.
Seit dem 14. Jh. läßt es sich z. B. in Trier nachweisen, daß Kinder, bei deren Geburt Komplikationen auftraten, bereits getauft wurden, wenn ein größerer Teil ihres Körpers, etwa ein Arm oder ein Bein, aus dem Mutterleib hervorragte. Konnten die Kinder wider Erwarten doch glücklich geboren werden, wurden sie anschließend ein zweites Mal getauft. Oft war es dabei nötig, dem Kind einen anderen Namen zu geben, denn bei solchen Nottaufen war das Geschlecht des Kindes nicht immer feststellbar. Da man in der Regel annahm, es handele sich um einen Jungen, erhielten auch die Mädchen Jungennamen.
War eine Nottaufe dieser Art nicht möglich, versuchte man sogar die ungeborenen Kinder mit Hilfe von Taufspritzen im Mutterleib zu taufen.
Wenn Kinder dennoch ungetauft verstorben waren, brachte man sie ab dem 15. Jh. häufig zu den zahlreichen Wallfahrtsstätten, wo man hoffte, sie für einen kurzen Moment wieder zum Leben erwecken zu können. Diese Zeit sollte ausreichen, die Taufe vorzunehmen. Als Zeichen des wiedererwachten Lebens wurden dabei z. B. das Röten der Wangen oder auch Kondenstropfen, die man für Schweißtropfen hielt, anerkannt.
Obgleich die Mütter getauft verstorben waren und somit einen Anspruch auf die Bestattung in geweihter Erde hatten, war auch ihr Tod im Verlauf dieses Grenzgangs zwischen Leben und Tod problematisch. Sie waren unrein verstorben und wurden dementsprechend bis ins 16. Jh. hinein an besonderen Orten des Friedhofs bestattet, mitunter auch außerhalb desselben. Bislang ist nicht sicher geklärt, ob sich die Völklinger Wöchnerinnenbestattungen im Inneren der Kirche befanden oder ob sie noch vor der bislang nicht datierten Erweiterung des Langhauses nach Süden an der Südseite außerhalb der Kirche beigesetzt wurden. Mehrere Indizien sprechen dafür, daß die Frauen im Außenbereich begraben wurden. Zum einen wurde nahe der Südmauer der südlichen Erweiterung ein Scherenfragment gefunden, das jedoch nicht sicher der Baugrube dieser Mauer zugeordnet werden konnte. Hätte es sich definitiv in der Baugrube befunden, müßte man davon ausgehen, daß die Frauenbestattungen mit Scherenbeigabe vor Errichtung dieser Mauer dort eingebracht worden waren. Zum zweiten ist das Kircheninnere ein privilegierter Bestattungsplatz, an dem sich Gräber von Frauen in der Regel seltener finden, als solche von Männern. Außerdem weisen die Frauenbestattungen zwar Beigaben auf, diese deuten aber nicht auf eine besondere soziale Stellung hin, die ein Grab im Innenraum rechtfertigen würde.
Die Lage der Völklinger Wöchnerinnen ist jedoch auch so unmittelbar an der Südmauer des Langhauses ungewöhnlich, denn ein Bestattungsplatz im Außenbereich ist um so attraktiver, je näher er sich an der Kirche befand. Warum man den unreinen Frauen in Völklingen diesen besonderen Platz zugedacht hat, erklärt sich vielleicht aus der Furcht vor bösen Mächten, die besonders für Wöchnerinnen eine große Gefahr darstellten. Daß ein Bestattungsplatz nahe der Kirche vor dem Einfluß böser Erdgeister schütze, ist noch aus dem 19. Jh. überliefert. Den lebenden Frauen wurden zu ihrem Schutz für die Zeit des Wochenbetts strikte Regeln auferlegt. So war es ihnen beispielsweise nicht erlaubt, Keller oder Dachboden zu betreten oder gar den Traufbereich des Hauses zu überschreiten. Von Verstößen gegen diese Regeln und deren Folgen berichten zahlreiche volkstümliche Sagen. Bevor die Frauen wieder am öffentlichen Leben teilnehmen konnten, mußten sie ausgesegnet werden. Diese Aussegnung, die das Ende des Wochenbetts kennzeichnet, fand vier bis sechs Wochen nach der Entbindung statt.
Jedoch ist nicht nur der Schutz für die Wöchnerin, sondern auch der Schutz vor derselben oft bezeugt. Die Zeit des Wochenbetts übertrug man auch auf die verstorbene Frau, deren Grab in diesem Zeitraum zum Beispiel mit Tüchern oder Zweigen gekennzeichnet werden konnte. Besonders schwangeren Frauen galt das Grab einer Wöchnerin als gefährlich. Man fürchtete, wenn eine werdende Mutter ein solches überschreite, werde sie selbst das gleiche Schicksal erleiden.
Inwiefern die Beigaben zur Bannung der bösen Macht der Wöchnerin beitragen sollten, muß offen bleiben. Neben den in Völklingen bezeugten Gefäßen und Scheren, die die häufigste Beigabe bei Wöchnerinnenbestattungen darstellen, finden sich in den Gräbern solcher Frauen Schlüssel, Nadeln, Fingerhüte, Garn, Tücher und Windeln. Eine verbreitete Forschungsmeinung deutet diese Dinge als Gegenstände, die die Verstorbene brauchte, um ihr Kind, ob es nun ebenfalls tot war oder lebte, zu versorgen. Wenn das Kind überlebt hatte, glaubte man, die verstorbene Mutter würde während der Zeit des Wochenbettes regelmäßig zum Kind kommen und sich um es kümmern. Die Beigabe von Gefäßen läßt sich auf diese Weise jedoch nur schwer erklären, denn zum Füttern des Kindes sind solche Gefäße nicht verwendet worden. Flaschen und Tassen können vielmehr während der Geburt Stärkungstränke, wehenfördernde Mittel oder auch Schmerzmittel beinhaltet haben. Es sind somit Beigaben, die zur Versorgung der Mutter dienen. Ebenso hat die Deutung der Mitgabe von Schlüsseln und Scheren als Statussymbol der Hausfrau eine Berechtigung. Wahrscheinlich hatte der Brauch der Beigaben neben dieser vordergründigen Deutung jedoch auch die Funktion, Gegenstände, die während einer unglücklichen Geburt verwendet wurden, dem weiteren Gebrauch zu entziehen. Die umfassende Sorge um die tote Wöchnerin und ihre Ausstattung mit zahlreichen Gegenständen mag außerdem ein Ausdruck der Tragik gewesen sein, die den Tod dieser Frauen begleitete und die uns auch heute noch berührt. (XC.)
Spätmittelalterliche Erweiterung:
Zu einem nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt im Verlaufe des Mittelalters brach man die südöstliche Langhausmauer ab und versetzte sie um 4,50 m nach außen, so dass das Kirchenschiff einen annähernd quadratischen Grundriss erhielt. Auffallend ist die Ähnlichkeit dieser archäologisch nachgewiesenen Bauphase mit einem Plan aus dem Staatsarchiv Koblenz aus dem 18. Jh., der den Grundriss der Kirche vor dem barocken Umbau darstellt. Der Chor blieb in seinen Ausmaßen bestehen, lag nun aber nicht mehr in der Fortsetzung der Mittelachse der Kirche. Zu diesem Gebäude ist erstmals ein Eingang nachgewiesen. Er befand sich in der südöstlichen Langhausmauer, an der dem Chor am weitesten entfernten Stelle. Eine weitere Schwelle im Bereich der Südostecke des Langhauses gehörte wohl zu einem Nebeneingang, der dem Priester vorbehalten war. Wahrscheinlich gleichzeitig mit der Verlagerung der Mauer brachte man einen neuen, aus rötlichen Sandsteinplatten bestehenden Fußboden ein, denn durch die Vergrößerung des Kirchenschiffs war nun ein Teil des ehemaligen Außenbereiches in das Kircheninnere einbezogen.(LXXXIX.)
Im Zeitraum zwischen dem 13. und 15. Jh. wurde der Chor dem Geschmack der Zeit entsprechend durch ein gotisches Kreuzgewölbe überdeckt. Es ruhte auf Diensten, von denen noch Fragmente während der Rupp’schen Grabungen gefunden wurden. Die beiden dem Langhaus abgewandten Außenecken des Chores erhielten zur Verstärkung Strebepfeiler. Auch nahm man umfangreiche Erneuerungsarbeiten am Turm vor, der danach bis ins 20. Jh. weitgehend unverändert erhalten blieb. Zahlreiche Architekturteile, die vom Abriss dieses Kirchenbaues stammen, sind im Mauerwerk und den Auffüllschichten des folgenden Barockbaues wiederverwendet worden und so erhalten geblieben. Dazu zählen Fragmente von steinernen Kapitellen und Säulenbasen, profilierte Fensterlaibungen und Teile der Rippen vom Kreuzgewölbe des Chores, aber auch zerborstene Schieferplatten mit Nagellöchern und Flachziegel, die belegen, dass man beide Materialien zur Dacheindeckung verwendet hatte. Weiße, graublaue und gelbe Pigmentreste auf einigen Steinen bezeugen eine farbige Ausgestaltung dieser letzten mittelalterlichen Kirche.(LXXXIX.)